Der Kanun.
Das albanische Gewohnheitsrecht
nach dem sogenannten Kanun
des Lekë Dukagjini
Kodifiziert von Shtjefën Gjeçovi,
ins Deutsche übersetzt von Marie Amelie Freiin von Godin
und mit einer Einführung von Michael Schmidt-Neke
ISBN 978-3-942437-33-2
OEZ-Verlag, Berlin 2014
267 pp.
Der Kanun des Lekë Dukagjini,
alb. Kanuni i Lekë Dukagjinit, stellt
die bekannteste Zusammentragung des
albanischen Gewohnheitsrechtes dar.
Dieses ursprünglich ungeschriebene
Rechtssystem bestimmte die wesent-
lichsten Aspekte des Sozialverhaltens
in den abgelegenen und sonst gesetz-
losen Gegenden Nordalbaniens.
Es wird seit Jahrhunderten in vielen
Landteilen des Nordens eingehalten,
auch heute noch. Das Kernland des
Kanun ist Dukagjin, d. h. das Hochland
von Lezha, Mirdita, Shala, Shoshi und
Nikaj-Merturi, sowie die Dukagjin-
Ebene im heutigen westlichen Kosovo.
Lekë Dukagjini (1410-1481), nach
dem der Kanun genannt wird, bleibt
eine wenig bekannte, schleierhafte
Person, die ein Fürst und Weggefährte
des albanischen Nationalhelden
Skanderbegs (1405-1468) gewesen
sein soll. Ob er den Kanun zusammenstellte oder ihm lediglich seinen Namen gab,
ist nicht zu ermitteln.
Der Kanun wurde von den Stämmen des Nordens streng beachtet und hatte Vorrang vor
anderen Rechtssystemen, seien sie staatlicher oder kirchlicher Art, die man im Laufe der Zeit
im Hochland zur Geltung zu bringen versuchte. Er stellte sowohl eine Ergänzung wie öfter
auch ein Konkurrenzrecht zum staatlichen Rechtssystem dar. Mit Hilfe dieses alten Systems
konnten die Gebirgsstämme auch während der fünf Jahrhunderte, als sie zumindest formell
Teil des Osmanischen Reichs waren, ihre Identität, ihre Autonomie und ihre Lebensart
bewahren.
Der Kanun des Lekë Dukagjini wurde zuerst von dem in Janjeva, südlich von Prishtina in
Kosovo, geborenen Franziskanerpater Shtjefën Gjeçovi bzw. Gjeçov (1874-1929) systematisch
erfaßt und veröffentlicht. Nach seinem Studium in Innsbruck und Holland verbrachte
Gjeçovi die wissenschaftlich ergiebigsten Jahre seines Lebens in ländlichen Siedlungen
Nordalbaniens, u. a. in Laç am Fuß des Kurbingebirges (um 1899-1905), in Gomsiqe östlich
von Shkodra bzw. Skutari (1907-1915), in Theth im hohen Norden (1916-1917) und in Rubik
in Mirdita (um 1919-1921). Dort begann er mit Hilfe der Stammesältesten Material über
Stammesgesetze, Archäologie und Folklore zu sammeln. Ein Teil des von ihm erfaßten
Kanun wurde erstmalig in der von Faik Bey Konitza in Brüssel herausgegebenen Zeitschrift
‘Albania’ von Nikola Aschta schon 1897-1899 veröffentlicht und danach von 1913 bis 1924
in der skutarinischen Zeitschrift ‘Hylli i dritës’ (Der Morgenstern) herausgegeben. Die
definitive Fassung des Kanun wurde in Shkodra 1933 posthum - vier Jahre nach der
Ermordung Pater Gjeçovis durch serbische Freischärler - veröffentlicht.
Dem deutschen Fachpublikum wurde der Kanun schon im Jahre 1901 durch drei Artikel in
der ‘Zeitschrift für Ethnologie, Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie,
Ethnologie und Urgeschichte,’ bekannt: ‘Das Gewohnheitsrecht der Stämme Mi-Schkodrak
(Oberscutariner Stämme) in den Gebirgen nördlich von Scutari’ von dem Albaner Nikola
Aschta; ‘Das Gewohnheitsrecht der Hochländer in Albanien’ von dem österreichischen
Diplomaten und Albanienforscher Theodor Anton Ippen (1861-1935); und ‘Das Recht der
Stämme von Dukadschin,’ von Lazar Mjeda (1869-1935), Erzbischof von Prizren und
Shkodra. 1916 erschien von dem ungarischen Albanienforscher Ludwig von Thallóczy
(1854-1916) die Abhandlung ‘Kanuni i Lekës, ein Beitrag zum albanischen Gewohnheits-
recht,’ in dem von Thallóczy herausgegebenen Sammelband ‘Illyrisch-albanische
Forschungen,’ und 1923 erschien von dem ebenfalls ungarischen Albanienforscher
Franz Baron Nopcsa (1877-1933) der Artikel ‘Die Herkunft des nordalbanischen
Gewohnheitsrechts, des Kanun Lek Dukadzinit,’ in der ‘Zeitschrift für vergleichende
Rechtswissenschaft.’
Schließlich wurde der Kanun von der Münchner Publizistin und Albanienkennerin Marie
Amelie Freiin von Godin (1882-1956) in Zusammenarbeit mit ihrem langjährigen Freund
Ekrem Bey Vlora (1885-1964) ins Deutsche übertragen und in den Jahren 1953 bis 1956 auch
in der ‘Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft’ veröffentlicht. Freiin von Godin,
die sonst als Verfasserin eines großen ‘Wörterbuch der albanischen und deutschen Sprache’
(Leipzig 1930) und etlicher Abenteuerromane mit albanischer Thematik in Erinnerung
geblieben ist, reiste im April 1930 nach Shkodra und besuchte dort einige Wochen lang
den Franziskanerorden, dessen Provinzial sie 1928 in München empfangen und beherbergt
hatte. Damals bemühten sich die Skutariner Franziskaner auf Grundlage der Arbeit und
Aufzeichnungen des ermordeten Pater Gjeçovi um eine definitive albanischsprachige
Ausgabe des Kanun. Hierzu schreibt Godin: “Die Patres schickten mir den Text mit der
Anregung zu, ihn ins Deutsche zu übersetzen. Ich ging sogleich darauf ein und reiste für
etliche Monate nach Shkodra, wo ich täglich mit den Patres arbeitete und auch Pater Stefan
traf. Es lag mir viel daran, das Albanische der Veröffentlichung (Dialekt von Kossowo)
unter Wahrung seiner urwüchsigen Ausdrucksweise genau und sinngemäß zu übersetzen,
was nicht ganz leicht war.” Leonard Fox, Übersetzer der englischsprachigen Ausgabe
(New York 1989), stellt die ungeheuren Schwierigkeiten der Übertragung offener dar:
“The language of the Kanun is notoriously difficult, not only in terms of its vocabulary
and syntax, but because the same words are used with a sometimes staggering variety of
meanings, as well as because of the extreme terseness of expression.” Godin begann 1938
mit der systematischen Übersetzung des Kanun, allerdings auf der Grundlage einer früheren
albanischen Fassung von Gjeçovi. Die deutsche Übertragung weicht daher sowohl in der
Einteilung und wie auch im Inhalt von der späteren albanischen Ausgabe des Jahres 1933
leicht ab. Wegen des Zweiten Weltkrieges erschien sie erst in den fünfziger Jahren, kurz
vor dem Tod der Verfasserin.
Die vorliegende Übertragung der Freiin von Godin stellt auf jeden Fall eine bemerkens-
werte Leistung dar, auch wenn sie wegen ihrer Urwüchsigkeit, ihrer Holprigkeit und ihres
veralteten Charakters von dem heutigen Leser einiges an Mühe, Aufmerksamkeit und
Mitdenken abverlangt. Die gedanklichen Zusammenhänge des Kanun sind für alle, die in
der nordalbanischen Kultur nicht aufgewachsen sind, teilweise schwer nachvollziehbar, und
die einzigen deutschen Bezeichnungen, die dem Ausgangstext einigermaßen entsprechen,
können bisweilen irreführend sein. Die Mühe wird sich aber lohnen, denn der Kanun des
Lekë Dukagjini ist ein faszinierendes Zeugnis einer einzigartigen Kultur.
Einige Aspekte des Kanun mögen dem heutigen Beobachter streng, sogar barbarisch
erscheinen. Als Hauptinstrument zur Durchführung und Erhaltung des Rechts und
insbesondere der männlichen Ehre galt die Rache des Geschädigten. Dies führte im Laufe
der Zeit zu endlosen Fehden und zur Blutrache, die am Anfang des 20. Jahrhunderts die
Stämme des Nordens erheblich dezimierte. Die Blutrache (alb. ‘gjakmarrje’), führte in
einigen Gebieten Nordalbaniens zu einem empfindlichen Männermangel, und stellt dort
bis auf den heutigen Tag ein virulentes Problem im gesellschaftlichen Leben dar.
Frauen genossen einen sehr minderwertigen Status. Der Kanun des Lekë Dukagjini
bestimmte ausdrücklich: “die Frau ist ein Schlauch, in dem die Ware transportiert wird”,
(alb. “grueja âsht shakull për me bajtë”). Frauen wurden daher aller männlichen Rechte
und Privilegien aber auch aller männlichen Verpflichtungen enthoben.
Positiv zu würdigen hingegen sind aus heutiger Sicht noch der Begriff der ‘besa,’ des
gegebenen Wortes bzw. Versprechens, und die ausgesprochen betonte Hochschätzung
des Gastes bzw. Freundes, alb. ‘mik.’
Der Kanun des Lekë Dukagjini ist nicht die einzige Zusammenstellung des albanischen
Gewohnheitsrechtes, aber er ist bei weitem die bekannteste. Unter den anderen in Albanien
beachteten einheimischen Rechtssystemen sind: 1.) der ihm recht ähnliche Kanun des
Hochlandes, alb. ‘Kanuni i Maleve’ oder ‘Kanuni i Malësisë së Madhe,’ der vor allem von
den Stämmen der Kastrati, Hoti, Gruda, Kelmendi, Kuç, Krasniqi, Gashi und Bytyçi, also
in dem Gebiet zwischen dem Shkodrasee im Westen und dem Hochland von Gjakova im
Osten, nördlich des Geltungsgebiets des Kanun des Lekë Dukagjini, anerkannt und ein-
gehalten wurde; 2.) der sogenannte Kanun des Skanderbeg, alb. ‘Kanuni i Skënderbeut,’
auch als Kanun der Arbëria, alb. ‘Kanuni i Arbërisë,’ bekannt, der in erster Linie in den
Gebieten von Dibra, Kruja, Kurbin, Benda und Martanesh, also im ehemaligen Herrschaft-
gebiets der Familie Castriota, südlich des Geltungsgebiets des Kanun des Lekë Dukagjini,
eingehalten wurde; und 3.) der südalbanische Kanun der Labëria, der in den Gebieten
von Vlora, Kurvelesh, Himara und Tepelena, vor allem aber innerhalb der sogenannten
Gegend der drei Brücken (Drashovica, Tepelena und Kalasa) eingehalten wurde. Dieses
südalbanische Rechtsinstrument wird einer mündlichen Überlieferung zufolge einem
Priester namens Papa Zhuli, Gründer des im Kreis Gjirokastra befindlichen Dorfs
Zhulat, zugeschrieben, daher auch die Bezeichnung Kanun des Papa Zhuli, alb. ‘Kanuni
i Papazhulit.’ In ihren zahlreichen Fußnoten nimmt Freiin von Godin hierzu als Vergleich
des öfteren Bezug.
Die jetzige Ausgabe des Kanun weicht minimal von der 1953 bis 1956 erschienenen Ausgabe
ab, und zwar in einigen wenigen Fällen, in denen die Verfasserin den Inhalt zweifellos
fehlerhaft wiedergab. In anderen Fällen, wo die Übersetzung uns zweifelhaft erscheint aber
wo der Text verschieden interpretiert werden kann, ist die deutsche Fassung so gelassen,
wie sie in der ersten Ausgabe erschien. Der interessierte Leser möge als Vergleich die
englischsprachige Fassung von Leonard Fox heranziehen. Die Fußnoten, die mit [Gj.]
gekennzeichnet sind, sind vom Gjeçovi, sonst sind sie alle von Godin in Zusammenarbeit
mit Ekrem Bey Vlora.
Es bleibt nur zu hoffen, daß diese Neuauflage von dem Kanun des Lekë Dukagjini zu
einem besseren Verständnis für die traditionelle Kultur Nordalbaniens und Kosovos
beitragen wird.
Robert Elsie
Berlin und Den Haag
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