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Robert Elsie

Handbuch zur albanischen Volkskultur
Mythologie, Religion, Volksglaube, Sitten, Gebräuche
und kulturelle Besonderheiten

Balkanologische Veröffentlichungen,
Fachbereich Neuere Fremdsprachliche Philologien der
Freien Universität Berlin
Band 36

ISBN 3-447-04487-X
Harrassowitz, Wiesbaden 2002
xi + 308 S.

EINLEITUNG

    Die Anwesenheit der Albaner in Südosteuropa ist seit ca. tausend Jahren belegt. Auch wenn ihre Herkunft noch nicht eindeutig geklärt werden konnte, gehen die Wurzeln dieses Volkes zweifelsohne viel weiter in die Geschichte zurück. Aus einer kleinen Hirtengemeinschaft in den abgelegensten Gebieten des Balkans wurde mit der Zeit ein Volk, das erst mit großer Verspätung und ein wenig Glück seinen Platz unter den europäischen Nationalstaaten einnehmen konnte.
    Aber auch nach fast einem Jahrhundert staatlicher Unabhängigkeit bleibt die Bezeichnung 'europäischer Nationalstaat' in Bezug auf die Albaner unbefriedigend. Ihr Leben als Volk gleicht noch eher demjenigen eines Volkes der Dritten Welt, das ums Überleben kämpft. Materiell gesehen hatten die Albaner selten mehr als das absolute Minimum, das ein Volk zum Überleben braucht. Angesichts ihrer äußerst schwierigen geschichtlichen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung kann man eigentlich nur staunen, daß die Albaner als Volk überhaupt überlebt haben.
    Nur in einem Sinne waren die Albaner reich. Ihre über die Jahrhunderte in verhältnismäßiger Abgeschiedenheit gewachsene Volkskultur bot bis vor kurzem eine überraschende Vielfalt. Dennoch blieb diese Kultur im Westen, auch bei vielen Völkerkundlern und Anthropologen, die sich auf den Balkan spezialisiert haben, relativ unbekannt; diese reiche Volkskultur, ohne die man den Balkan nicht zu verstehen vermag.
    Die vorliegende Arbeit befaßt sich in erster Linie mit dem Volksglauben im weitesten Sinne. Es umfaßt u.a.: Figuren der albanischen Mythologie, religiöse Vorstellungen und Aberglauben, Glaubensgemeinschaften, Orden und Sekten, die in Albanien tätig waren oder sind, Heilige, die für den Volksglauben von wesentlicher Bedeutung sind, Kultstätten, Kalenderfeste und Rituale. Eng verwandt mit der Welt des Glaubens sind auch Volkssitten, Gebräuche und kulturelle Besonderheiten, die mit aufgenommen wurden, etwa: Bräuche bei der Geburt, Eheschließung und Tod, sexuelle Gebräuche, Blutrache und das albanische Gewohnheitsrecht. Ausgeschlossen wurden diejenigen Bereiche der Volkskultur, die keinen unmittelbaren Bezug zu Glauben, Sitten und Gebräuche haben, wie Volksmusik, Tanz, Kunst und die materielle Kultur.
    Das Handbuch der albanischen Volkskultur stellt zum ersten Mal in deutscher Sprache eine Vielzahl von bisher unbekannten bzw. wenig bekannten Informationen zur Verfügung und hofft hiermit als Handbuch für Forscher und Interessierte aus den verschiedensten Fachbereichen nützlich zu sein. Die Einträge sind in den meisten Fällen mit bibliographischen Angaben versehen, um weiterführende Forschung zu erleichtern.
    Die albanische Volkskultur befindet sich derzeit in einem eigenartigen Zwiespalt. Auf der einen Seite ist sie u.a. wegen der traditionellen Isolation der Albaner von der Außenwelt, wie oben angedeutet, sehr reich und erfaßt viele Elemente, die für Völkerkundler und Anthropologen von größtem Interesse sein dürften. Es kann mit gutem Gewissen behauptet werden, daß Albanien in mancher Hinsicht ein lebendiges Museum der Vergangenheit ist. In den Bergen des Nordens findet man, zum Beispiel, noch sehr deutliche Spuren einer Stammesgesellschaft mit einer ausgeprägt patriarchalischen Ausrichtung sowie Reste einer ausgestorbenen heroischen Lebensform.
    Auf der anderen Seite ist die albanische Volkskultur durch eine halbes Jahrhundert stalinistischer Diktatur deutlich ärmer geworden. Sie wurde von den damaligen Machtinhabern ja bewußt unterdrückt. Das kommunistische Regime der ehemaligen Sozialistischen Volksrepublik Albanien (1944-1990) bemühte sich während seiner sechsundvierzigjährigen Herrschaft mit aller Kraft, den 'neuen sozialistischen Menschen' zu schaffen, und zerstörte dabei alles, was im Wege stand. Unter der Diktatur von Enver Hoxha (1908-1985) wurden alle nicht-marxistischen Glaubensformen als Konkurrenz zum Aufbau des Sozialismus und als Bedrohung für die Macht der Partei angesehen. Sie wurden daher - zum großen Teil zumindest - aus den Köpfen, den Herzen und den Seelen der Albaner ausgerottet. Eine unmittelbare Auswirkung der stalinistischen Diktatur ist es daher auch, daß es in Albanien heute sehr wenig Menschen gibt, die etwas über die Traditionen ihres eigenen Volkes wissen, etwa über albanische Mythologie oder Glaubensformen. Vieles, was in Albanien verloren gegangen ist, blieb aber in den traditionsbewußteren albanischen Siedlungsgebieten von Kosova und Westmazedonien am Leben. Darüber hinaus werden einige archaische Züge der traditionellen Volkskultur in den albanischen Siedlungen Süditaliens und Griechenlands bewahrt.
    Es ist auf jeden Fall an der Zeit, die vielfältigen Erscheinungsformen der albanischen Volkskultur ans Licht zu bringen, bevor sie für immer und ewig verschwinden. Einiges wurde in den letzten Jahren schon geleistet, hauptsächlich von albanischen Wissenschaftlern des Albanologischen Instituts in Prishtina und des Instituts für Volkskultur in Tirana. Sie haben die wesentlichen Merkmale dieser Kultur in mühsamer Arbeit festgehalten, geordnet und zum Teil veröffentlicht. Es bleibt aber weiterhin sehr viel zu tun. Wenn dieses Buch einen Anstoß zum Weiterforschen geben kann, wird sein Hauptziel erreicht.
    Abschließend möchte der Verfasser sich bei einigen Personen bedanken; bei Wissenschaftlern und Spezialisten wie auch bei einfachen Hirten und Bauern, die diesem Vorhaben ihre Zeit, ihr Wissen und ihren Ideenreichtum zur Verfügung gestellt haben. Namentlich erwähnen möchte ich in diesem Zusammenhang Bardhyl Demiraj (München), Arthur Liolin (Boston), Abdurrahim Myftiu (Tirana), Ioan Pelushi (Korça) und Frances Trix (Ann Arbor). Ferner zu danken ist Heinz Bothien (Frauenfeld) für seine unentbehrliche Unterstützung bei der Redaktion des Textes.
    Die Vorbereitungsarbeit zu diesem Buch wurde in den frühen Monaten des Jahres 1998 geleistet, zu einer Zeit, als Albanien dabei war, sich von der großen Selbstvernichtungswelle des Jahres 1997 mühsam zu erholen. Durch die wirtschaftlichen und politischen Ereignisse jenes chaotischen Jahres wurden die Gesellschaftsstrukturen des Landes von Grund zerstört. So hat auch eine massive Landflucht aus dem Hochland eine für Europa einzigartige Stammesgesellschaft auseinandergerissen. Es war aber auch die Zeit, in der eine in Belgrad lang gepflegte Hegemoniepolitik der "ethnischen Säuberung" und der blinden Wut sich anschickte, die uralte albanische Kultur des Kosova zu vernichten. Es ist nur zu wünschen, daß ruhigere und bessere Zeiten kommen, damit das europäische Volk der Albaner endlich in den Genuß kommt, einfach wie Europäer leben zu können.

Robert Elsie
Olzheim/Eifel, Mai 2001

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