Robert Elsie
Reisen in den Balkan
Die Lebenserinnerungen des Franz Baron Nopcsa
Eingeleitet, herausgegeben und mit Anhang versehen von Robert
Elsie
Dukagjini Balkan Books
Dukagjini, Peja 2001
xii + 527 pp.

EINLEITUNG
Am 26. April 1933 veröffentlichte
die Neue Freie Presse in Wien den folgenden Bericht:
Das blutige Drama in der Singerstraße
Der Gelehrte als Mörder und Selbstmörder
Wie berichtet, hat gestern vormittag
der 55-jährige Privatdozent (Baron) Dr. Franz Nopcsa in
seiner im dritten Stockwerk des Hauses I, Singerstraße
12, gelegenen Wohnung seinen langjährigen Sekretär,
den 45-jährigen Albaner, Bajazid Elmas Doda, erschossen
und sich dann selbst in seinem Arbeitszimmer vor dem Schreibtisch
durch einen Schuß in den Mund entleibt. Die amtsärztliche
Untersuchung stellte bei dem Sekretär fest, daß er
zwei fast an der gleichen Stelle der linken Schläfe gelegene
Einschüsse aufwies, die den Schädel durchbohrt haben,
so daß die Projektile nach Austritt aus dem Kopf im Kopfpolster
liegen blieben.
Nopcsa scheint die Tat mit Umsicht vorbereitet
zu haben. Zahlreiche verschlossene Abschiedsbriefe an Verwandte
und Bekannte, ein verschlossenes an einen Wiener Rechtsanwalt
adressiertes Testament und andere Aufzeichnungen wurden gefunden.
Daß auch materielle Schwierigkeiten mit ein Beweggrund
zur Tat gewesen seien, kann außer den Angaben der Bedienerin,
die seit vier Monaten keinen Lohn mehr erhalten hatte, auch daraus
geschlossen werden, daß Franz Nopcsa, der mit Leib und
Seele an seinen Büchern und Sammlungen hing, geplant hat,
seine reichhaltige, viele Unika enthaltende Bibliothek ... zu
verkaufen. ...
... ein Schreiben an die Polizei
"Die Ursache meines Selbstmordes ist zerrüttetes Nervensystem.
Daß ich auch meinen langjährigen Freund und Sekretär,
Herrn Bajazid Elmas Doda, im Schlafe und ohne daß er es
vorausgeahnt hätte, erschossen habe, liegt darin, daß
ich ihn krank, elend und ohne Geld nicht auf der Welt zurücklassen
wollte, da er dann zuviel gelitten hätte. Ich wünsche
verbrannt zu werden."
So endete das bewegte Leben des Franz
Baron Nopcsa von Felsöszilvás (1877-1933), eines
der schillernsten Forscher und Gelehrten seiner Zeit. Als Sohn
einer ungarischen Adelsfamilie wurde Nopcsa am 3. Mai 1877 auf
dem elterlichen Gut Szacsal (Sacel) bei Hatzeg in Siebenbürgen
geboren. Durch die Vermittlung seines Oheims und Taufpaten, Franz
von Nopcsa (1815-1904), Oberhofmeister bei Kaiserin Elisabeth,
konnte Nopcsa seine Matura am Maria-Theresianum in Wien ablegen.
Das vielleicht entscheidende Ereignis seiner Jugend fand im Jahre
1895 während eines Ausfluges um Szentpéterfalva statt.
Dort entdeckte er und seine Schwester Ilona fossile Knochenreste
eines Dinosauriers, die er an den Geologen und Paläontologen,
Professor Eduard Suess, nach Wien schickte. Von seiner Matura
1897 bis zum Jahre 1903 studierte Nopcsa u. a. bei Suess an der
Universität Wien, die damals eine Hochburg der paläontologischen
Forschung war.
Nopcsa entwickelte sich selbst schnell
zu einem begabten Forscher der Paläontologie. Schon als
22-jähriger hielt er am 21. Juni 1899 in der Klassensitzung
der Akademie der Wissenschaften in Wien seinen ersten Vortrag
mit dem Titel Dinosaurierreste in Siebenbürgen, der
großes Aufsehen erregte. Er gilt u. a. als Begründer
der Paläophysiologie, vor allem mit seinen auch im Ausland
anerkannten Studien über fossile Reptilien. Bekannt wurden
seine Hypothesen von 'running proavis', von der Warmblütigkeit
der Pterosaurier und von der Bedeutung bestimmter endokriner
Vorgänge, die er für die Evolution und das Aussterben
der Riesenwüchse für bedeutsam hielt. Obzwar nicht
alle seine Theorien ohne Widerspruch angenommen wurden, befruchteten
und prägten sie weite Gebiete der paläontologischen
Forschung. Ebenso groß waren Nopcsas Verdienste in der
Geologie, etwa bei der Forschung der tektonischen Struktur der
westbalkanischen Gebirge, bei der er manchmal gewagte Theorien
vertrat.
In späteren Jahren wurde er auch
zu einem der führenden Albanienforscher seiner Zeit. Seine
albanologische Veröffentlichungen aus den Jahren zwischen
1907 und 1932 umreißen in erster Linie folgende Gebiete:
Vor- und Frühgeschichte, Ethnologie, Geographie und Neuere
Geschichte sowie das albanische Gewohnheitsrecht, d. h. den Kanun.
Die frühen Arbeiten wie Das katholische Nordalbanien
(Budapest 1907), Aus ala und Klementi (Sarajevo
1910) und Haus und Hausrat im katholischen Nordalbanien
(Sarajevo 1912) sowie Beiträge zur Vorgeschichte und
Ethnologie Nordalbaniens (Sarajevo 1912) enthalten eine Fülle
von Beobachtungen aus den obengenannten Bereichen, auch wenn
das Material aus heutiger Sicht wenig systematisiert erscheinen
mag. In späteren Jahren, als er sich sozusagen zur Ruhe
gesetzt hatte und den Balkan nicht mehr so aktiv bereiste, erschienen
anspruchsvollere Werke, die einem wissenschaftlichen Anspruch
in jeder Hinsicht genügen. Die bekanntesten dieser Arbeiten
sind: Bauten, Trachten und Geräte Nordalbaniens (Berlin
& Leipzig 1925) und vor allem seine grundlegende, 620-seitige
Monographie, Geologie und Geographie Nordalbaniens (Öhrlingen
1932), die unter seinen zu Lebzeiten veröffentlichten Werken
als Gipfel seiner albanologischen Forschung gelten kann.
Nopcsas Publikationsliste, als Anlage
am Ende dieses Bandes mit veröffentlicht, umfaßt insgesamt
über 186 Titel, hauptsächlich aus den drei obengenannten
komplexen Bereichen der Paläontologie, Geologie und Albanienforschung.
Sein frühzeitiger Tod ließ
allerdings Bedeutendes unveröffentlicht. Der wissenschaftliche
Nachlaß Nopcsas ging, soweit er paläontologischer
Natur war, an das British Museum in London. Der albanologische
Teil der Hinterlassenschaft ging an seinen Kollegen und ebenfalls
bekannten Albanologen, Professor Norbert Jokl (1877-1942), in
Wien. In einem Schreiben vom 24. April 1933, seinem Todestag,
hatte Nopcsa Herrn Jokl eine Liste der ihm überlassenen
Manuskripte gegeben und ihn gebeten, sich mit Paul Graf Teleki
in Budapest in Verbindung zu setzen, damit dieser die Mittel
für eine Veröffentlichung beschaffe. Aus finanziellen
Gründen ist es allerdings nicht zu einer Veröffentlichung
dieser zum Teil grundlegenden Werke gekommen. Seit dem gewaltsamen
Tod von Jokl Anfang Mai 1942 wird der albanologische Nachlaß
Nopcsas in der Handschriften-, Autographen- und Nachlaß-Sammlung
der Österreichischen Nationalbibliothek in der Wiener Hofburg
aufbewahrt.
Aus dem Wiener Nachlaß sind vor
allem fünf Manuskripte zu erwähnen: 1.) Albanien:
die Bergstämme Nordalbaniens und ihr Gewohnheitsrecht,
Ser. nov. 9392, ein Werk von 510 durchgehend paginierten Blättern,
das erfreulicherweise zu einem großen Teil in dem Band
Die Stammesgesellschaften Nordalbaniens, Berichte und Forschungen
österreichischer Konsuln und Gelehrter, 1861-1917 (Wien-Köln-Weimar
1996) von Fatos Baxhaku und Karl Kaser veröffentlicht wurde;
2.) Religiöse Anschauungen, Sitten und Gebräuche,
Ser. nov. 9393, ein Werk zur albanischen Volkskunde in 242 Blättern,
wobei die ersten 58 Blätter leider fehlen; 3.) Die Gedichte
des Colez Marku, 1895-1932, Ser. nov. 11912, ein Lyrikband
in deutscher Sprache mit insgesamt 160 eher bescheidenen Gedichten
auf 110 Blättern; 4.) Dialektstudie (Fragment), Ser.
nov. 11918, Anmerkungen zur nordwestgegischen Mundart nördlich
von Shkodra auf 36 losen Blättern von unterschiedlichem
Format; und vor allem 5.) die hier zum ersten Mal veröffentlichten
Lebenserinnerungen des Baron Nopcsa unter dem Titel Reisen
in den Balkan, Ser. nov. 9368.
Die fünfteilige Monographie Reisen
in den Balkan, auch irrtümlicherweise als Nopcsas Tagebücher
bezeichnet, besteht aus insgesamt 456 mit einer Schreibmaschine
getippten und teilweise auch handschriftlichen Blättern,
die der Verfasser etlichen Korrekturgängen (mit sieben verschiedenen
Farbstiften) unterworfen hatte. Nach der Numerierung fehlen im
4. Teil die Seiten 51-55. Sonst scheint das Werk vollständig
zu sein, auch wenn bei der Korrekturarbeit der letzte Schliff
fehlen mag.
Es kann angenommen werden, daß
Nopcsa schon vor dem Ende des Ersten Weltkrieges mit einer ersten
Niederschrift seiner Lebenserinnerungen angefangen hatte. Als
Grundlage hierfür verwendete er seine lang als verschollen
geglaubten Notizbücher, die er während seiner Balkanreisen
stets bei sich trug. Sieben dieser mit kurzen Notizen, Terrainaufzeichnungen,
Reiseskizzen, Zahlen und Rechnungen versehenen Bände, davon
sechs Albanien betreffend und ein siebter über Bulgarien,
wurden 1990 vom Herausgeber in den albanologischen Beständen
der Nationalbibliothek in Tirana aufgefunden [Signatur DR2/3F
bis 8F]. Sie betreffen die folgenden Zeiträume: Bd. 1
(1905), 430 S.; Bd. 2 (1906), 580 S.; Bd. 3
(1907), 474 S.; Bd. 4 (1908), 316 S.; Bd. 5
(1909), 686 S.; und Bd. 6 (1913), 213 S.
Diese Oktav-Bände, wie vermutlich
viele anderen Werke aus der Privatbibliothek von Nopcsa, wurden
nach dem Tod des Autors vom Buch- und Kunst-Antiquariat Heinrich
Hinterberger, Hegelgasse 17, in Wien, für 150 Schweizer
Franken zum Verkauf angeboten und gelangten in die Sammlung des
albanischen Publizisten Mid'hat Bey Frashëri (1880-1949),
auch als Lumo Skendo bekannt, der mit 20.000 Bändern damals
die größte Privatbibliothek Albaniens besessen haben
soll. Da Frashëri während des Zweiten Weltkrieges ein
bedeutender Führer der antikommunistischen Widerstandsbewegung
Balli Kombëtar war und mit dem Sieg Enver Hoxhas
1944 Albanien in Richtung Süditalien verlassen mußte,
wurde seine berühmte Sammlung von den kommunistischen Behörden
beschlagnahmt. Sie bildet einen wesentlichen Grundstock des albanologischen
Fundus der jetzigen albanischen Nationalbibliothek (BKT). Bis
zum Ende der Diktatur standen diese Vorkriegsbestände nur
ausgewählten Wissenschaftlern zur Verfügung.
Die Lebenserinnerungen umfassen einen
zwanzigjährigen Zeitraum von 1897 bis zum Jahre 1917, als
Nopcsa erst vierzig Jahre alt wurde. In einem Brief an Jokl vom
8. Oktober 1928 schrieb Nopcsa, daß er 1918 sein Notizbuch
verloren habe, was den ziemlich plötzlichen Abbruch der
Memoiren im Jahre 1917 erklärt.
Die vorliegende Fassung dürfte um
1929 zusammengestellt worden sein, als Nopcsa deren Veröffentlichung
geplant hatte. Der Stadium-Verlag in Budapest hatte sich bereit
erklärt, eine ungarische Übersetzung des Werkes zu
veröffentlichen. Kálmán Lambrecht, der durch
Nopcsas Verwendung Bibliothekar der Geologischen Reichsanstalt
in Budapest war, wurde mit der Übersetzung beauftragt und
gleichzeitig mit der undankbaren Aufgabe betraut, Nopcsas zahlreiche
Änderungswünsche vor dem Verlag zu vertreten. Nach
vielem Hin und Her zog der Verlag sein Angebot zurück. Aus
diesem Grund zerschlugen sich auch die Verhandlungen über
eine deutsche Ausgabe des Werkes (vgl. Tasnádi Kubacska
1945, S. 275-277, Robel 1966, S. 135-136.).
Zum Leben und Werk des Baron Nopcsa ist
viel geschrieben und veröffentlicht worden, so daß
auf einen eingehenden Lebenslauf vor und nach dem Balkankrieg
hier verzichtet werden kann. Als Orientierung seien hier kurz
auf die wesentlichen, Nopcsa betreffenden Veröffentlichungen
hingewiesen. Der erste Versuch, Nopcsas Leben, Werk und Wirkung
publizistisch darzustellen, wurde von András Tasnádi
Kubacska unternommen, und zwar in einer ungarischen, Nopcsa
Ferenc kalandos élete (Budapest 1937), und einer deutschen
Fassung, Franz Baron Nopcsa (Budapest 1945). Tasnádi
Kubacska würdigte Nopcsa in erster Linie als Naturwissenschaftler,
ging also weniger auf seine Leistungen als Albanienforscher und
politische Figur ein. Stets bemüht, Nopcsa in ein gutes
Licht zu stellen, fehlte es ihm bisweilen an Sachlichkeit und
Distanz zu seiner Vorlage. In der deutschen Fassung enthält
das Buch aber nicht nur eine nützliche Bibliographie der
Nachrufe und der zwischen 1920 und 1938 erschienenen Zeitungsartikel
zu Nopcsa sondern umfaßt auch Nopcsas Korrespondenz mit
Friedrich Baron Huene, Lucas Waagen, Ludwig von Lócsy
und Kálmán Lambrecht. Eine umfassende Bibliographie
der Werke Nopcsas wurde erst von Kálmán Lambrecht
in einem in der Paläontologischen Zeitschrift 15
(1933) veröffentlichten Nachruf mit dem Titel Franz Baron
Nopcsa, der Begründer der Paläophysiologie, 3. Mai
1877 bis 25. April 1933. Unverzichtbar als Quelle für
das Leben und Werk Nopcsas ist in erster Linie die in der Reihe
'Albanische Forschungen' erschienene Abhandlung Franz Baron
Nopcsa und Albanien, ein Beitrag zu Nopcsas Biographie (Wiesbaden
1966) von Gert Robel. Grundlage für diese informative und
kritische Monographie ist das obenerwähnte Wiener Manuskript
der Lebenserinnerungen, das hier nun veröffentlicht wird.
Robel geht ausführlich nicht nur auf Nopcsas wichtigen Beitrag
zur wissenschaftlichen Albanienforschung ein, sondern auch auf
sein Engagement in der albanischen Frage und auf die politischen
Hintergründe der Jahre vor, während und nach den Balkankriegen
1912-1913. Nopcsa war ein scharfer, wenn auch nicht immer objektiver
Beobachter des Zeitgeschehens auf der Balkan-Halbinsel am Anfang
des 20. Jahrhunderts. Vieles, was in seinen Memoiren geschildert
wird, wird durch Robel in ein sachlicheres Licht gerückt
und erst durch ihn verständlich gemacht. Schließlich
bedarf auch die Bibliographie Franz Baron von Nopcsa, Anmerkungen
zu seiner Familie und seine Beziehungen zu Albanien von József
Hála (Wien 1993) einer Erwähnung.
Als Wissenschaftler ist Nopcsa von vielen
hinlänglich gewürdigt geworden. Als Mensch ist Nopcsa
gerade in den Memoiren aber viel schwieriger zu fassen. Über
seine engsten und intimsten menschlichen Beziehungen schreibt
Nopcsa wenig. Seine Memoiren geben nur sehr indirekte und wahrscheinlich
ungewollte Schlüsse zu seiner Homosexualität preis:
etwa seine Bewunderung für junge k.u.k. Offiziere in Uniform,
seine frühe Liebe zu Louis Drakovic (1879-1909), seine
offensichtliche Neigung zu rumänischen Schafhirten sowie
seine langjährige intime Beziehung zu seinem albanischen
Sekretär Bajazid Elmas Doda (ca. 1888-1933), der mit ihm
starb. Sonst behält der Verfasser seine Gefühle weitgehend
für sich. Robel kommt zu folgendem Schluß: "Überschaut
man, rückblickend, Nopcsas Leben, so drängt sich vor
allem die Vielschichtigkeit und innere Widersprüchlichkeit
dieses Menschen dem Betrachter auf. Eine genial zu nennende Intuition
steht dem Unvermögen, die Motive anderer zu erfassen und
zu würdigen, kraß gegenüber, harter Egoismus
der Liebe zu den Albanern, kühl prüfender Intellekt
der emotionalen Voreingenommenheit" (Robel 1966, S. 161).
Gewiß wird Nopcsa dem Leser nicht immer als angenehmer
Zeitgenosse vorkommen. Er erscheint stets geltungsbedürftig,
öfter streitsüchtig und arrogant und bisweilen offen
antisemitisch. Wenn auch einiges aufgrund seiner Herkunft und
seines Milieus verständlich ist, bleibt vieles an seinen
Charaktereigenschaften, Beweggründen und inneren Gefühlen
verborgen und undurchsichtig.
Wenn Tasnádi Kubacska und Lambrecht
in erster Linie auf Nopcsa als Naturwissenschaftler eingehen,
so würdigt der zu Lobpreisungen keineswegs geneigte Robel
eher seine grundlegende Bedeutung als Albanologe: "Sein
Tod, der von seinen Freunden beklagt, von seinen Kollegen bedauert
wurde, bedeutete nicht nur für die Paläontologie und
die Geologie einen Verlust. Seine beiden großen Manuskripte
über Albanien, die wichtigstes ethnologisches Material enthalten,
verschwanden nach seinem Tod und blieben bis heute ungedruckt.
Dies ist um so mehr zu bedauern, als es wohl kaum einen Mann
gab, der mit solcher Schärfe registrierte und festhielt,
was er erlebte, und der zu dieser Zeit sich in Albanien über
einen längeren Zeitraum aufgehalten hat. Nopcsa hat mit
einer fast universal zu nennenden Neugier gesammelt und notiert,
was ihm in diesem Lande begegnete - der Verlust seiner Notizbücher
wiegt schwer. Ihm wurde noch zuteil, das 'alte' Albanien zu erleben,
ehe das Land von der 'Zivilisation' erfaßt wurde und die
alte Ordnung mit ihren Sitten und Gebräuchen verschwand.
Die Kombination von wissenschaftlicher Neugier, Beobachtungsgabe
und eminentem Fleiß, durch die er sich auszeichnete, machte
ihn wie kaum einen zweiten berufen, das Bild dieses 'alten' Albanien
festzuhalten und weiterzugeben. Die Ungunst der Zeiten hat dieses
Unterfangen, zu dem er bereit war, nur fragmentarisch zur Ausführung
kommen lassen. Allein auch das unvollendete Werk sichert ihm
noch heute einen Platz unter den bedeutendsten Albanologen.
Seine Schwächen, unter denen er
und seine Zeitgenossen, soweit sie mit ihm in Berührung
kamen, gelitten haben, wiegen demgegenüber wenig. Sie erscheinen
dem außenstehenden Betrachter - so schmerzlich sie auch
für alle davon betroffenen gewesen sein mögen - als
wohl zu bedauernde Nebenerscheinungen der 'überspitzten'
Zielstrebigkeit und der ungeheuren Energieanspannung, mit denen
Nopcsa seine Vorhaben durchführte - und ohne die es ihm
kaum möglich gewesen wäre, ein derart fruchtbares und
umfangreiches Werk zu hinterlassen...
Sowohl nach Umfang wie nach Bedeutung
gehört Nopcsas Beitrag zur Albanologie zu den größten,
die auf diesem Gebiet geleistet wurden. Es mindert sein Werk
keineswegs, wenn der 'Außenseiter' in Einzelheiten irrte
und manchen Bezug, der sich dem Ethnologen heute ergibt, nicht
herstellte, sei es, daß er ihn nicht sah, sei es, daß
er das Problem nicht entdeckte. Auch der Historiker und der vergleichende
Rechtshistoriker wird Einzelheiten anders einordnen. Aber alle
diese Vorbehalte beziehen sich auf Details, sie ändern nichts
daran, daß Nopcsa einen außerordentlich weit gespannten
Bereich als erster systematisch erfaßt und dargestellt
hat. Der Bogen spannt sich von der Entstehung der Stammesorganisation,
wie er sie am Beginn der 20. Jahrhunderts in Nordalbanien erlebt
hatte, über die Erfassung der Rechtssatzungen dieser Stämme
und deren Einordnung in die allgemeine Rechtsgeschichte, die
Sitten und Gebräuche der Nordalbaner bis hin zu den Gegenständen
ihres täglichen Lebens und schließlich zur Landschaft,
in der diese Menschen lebten... Was aber Nopcsas großes
Verdienst ist: Er erkannte, daß Albanien Fragen aufwarf,
und er zögerte nicht, sie zu beantworten, so gut es ihm
möglich war. Das Ergebnis ist ein Werk von seltener Größe,
Produkt eines außerordentlichen Arbeitsfleißes und
genialen Erfassens der wissenschaftlichen Fragen. Man wird auch
auf sein albanologisches Werk Tilly Edlingers Worte ausdehnen
dürfen, die sie seinen paläontologischen Arbeiten widmete:
"Dem überwältigend produktiven Feuergeist sind
nur erstaunlich geringe wissenschaftliche Irrtümer unterlaufen..."
Und es ist zutiefst zu bedauern, daß es Nopcsa nicht vergönnt
war, die beiden großen Manuskripte, die er schließlich
Norbert Jokl hinterließ, der Öffentlichkeit zu übergeben.
Sein Ansehen als Forscher hat dies freilich kaum geschmälert
- er hat sich auch mit den bereits veröffentlichten Untersuchungen
einen gebührenden Platz in der Albanologie gesichert"
(Robel 1966, S. 137, 162-163).
Nun nach beinah einem dreiviertel Jahrhundert
liegt das zweite der großen Manuskripte dem Leser vollständig
vor, welches das Bild des großen Albanienforschers, des
großen Paläontologen und des großen Geologen
zu vervollständigen helfen wird.
Zu dem Manuskript bleibt lediglich auf
Technisches hinzuweisen. Bei der Vorbereitung wurde die Orthographie
auf die heutige Norm gebracht. Orts- und Personennamen aus dem
Balkanbereich wurden soweit wie möglich auch standardisiert,
etwas Shkodra für Skutari, wobei der Herausgeber
für einige Ortsnamen bekanntere Alternativbezeichnungen
in runden Klammern hinzugefügt hat. Auch wurde vom Herausgeber
zum besseren Verständnis des Textes eine Reihe von Fußnoten
angegeben. Sonst wurde dem Verfasser seinen altertümlichen
k.u.k. Stil, seine siebenbürgische Sprache und seine bisweilen
umständliche Ausdrucksweise, einschließlich Sprachfehler
und Ungarismen weitgehend gelassen. Auch wenn dem Leser eventuell
einiges an Geduld abverlangt wird, wird sich die Mühe mit
Sicherheit lohnen.
Robert Elsie
Olzheim / Eifel

INHALTSVERZEICHNIS
- Einleitung des Herausgebers
- Teil I - Studien und erste Reisen (1897-1905)
Universitätszeit. Zu Pferd und zu Fuß durch Bosnien
und die Lika. Einjährig Freiwilliger. Erste Reise nach Italien.
Meran. Die Familie Buchholz. Mailand. Venedig. Studienreise nach
Süddeutschland. Reise nach Griechenland. Lerne Baron Burian
kennen. Mazedonien und die dortigen Verhältnisse. Erst Reise
nach Konstantinopel. Zollschwierigkeiten. Über Athen nach
Skopje. Ritt durch Albanien. Studienreisen. Noch einmal Konstantinopel.
Ausflug nach Ägypten. Am Rande der Wüste.
- Teil II - Forschungsreisen in Albanien (1905-1910)
Reisen und kleine Abenteuer in Albanien. Studien in England.
Wieder in Albanien. Ein Ausflug in die albanische Hochgebirge.
Schwierigkeiten mit den türkischen Behörden. Von albanischen
Räubern gefangen. Die internationale Reformaktion in Mazedonien
und Österreich-Ungarns zwiespältige Rolle. Albanien
in der ersten Zeit der Jungtürken-Herrschaft. Die Annexionskrise.
Lerne Conrad von Hötzendorf und Exzellenz Krobatin kennen.
Ein mißglückter Waffenschmuggel des österreichisch-ungarischen
Ministeriums des Äußeren. Episoden mit Türken
und Albanern. Der katholische Klerus Nordalbaniens. Verhalten
Italiens.
- Teil III - Zwischen der Annexion und dem Balkankrieg
(1910-1912)
Einige Beamte des österreichisch-ungarischen Ministeriums
des Äußeren. Urteil über die Jungtürken.
Erster Konflikt mit dem Ministerium des Äußeren. Lexa
von Aehrenthal. Einblick in das Verhältnis Conrad-Aehrenthal.
Fußwanderung durch das östliche Bosnien. Lerne Exzellenz
Auffenberg kennen. England und die Engländer. Erster Kontakt
mit Erzherzog Franz Ferdinand. Erste Tätigkeit als Journalist.
Bei den Jungtürken und den albanischen Rebellen. Ernstes
und heiteres aus der Redaktionsstube. Scharfe Angriffe gegen
Aehrenthal. Albanien während des türkisch-italienischen
Krieges. Der Konflikt Conrad-Aehrenthal. Graf Berchtold. Die
letzte albanische Revolte. Vergebliche Vorschläge.
- Teil IV - Zwischen Balkankrieg und Weltkrieg (1912-1914)
Balkankrieg. Lerne Exzellenz Schemua kennen. Als Schafhirt unter
nomadisierenden Schafhirten. Serbische Propaganda in Südungarn
und ein kritischer Moment. Demaskierung der serbischen Propaganda.
Großrumänische Wühlarbeit in Siebenbürgen.
Rehabilitierung Conrads. Gründung des halb-offiziellen österreichischen
Albanien-Komitees. Der Albanerkongreß in Triest. Der Putschversuch
des Herzog von Montpensier. Die Londoner Friedenskonferenz. Ich
ziehe mich von der Albanien-Propaganda zurück. Wieder Schafhirt.
Wanderung mit einer Schafherde. Soziale Stellung der Hirten.
Als Schafhirt in den Karpathen. Rumänisch-serbische Annäherungen.
Graf Berchtolds politische Fehler. Zurück nach Albanien.
Ein Mord. Konflikt mit dem österreichisch-ungarischen Konsul
in Shkodra. Mein Leben in Shkodra. Börsenspekulanten im
österreichisch-ungarischen Ministerium des Äußeren.
Studienreise nach Deutschland und Belgien. Das Debakel des Fürsten
Wied in Albanien. Falsche Beurteilung der internationalen Lage
durch die österreichisch-ungarische Diplomatie.
- Teil V - Weltkrieg (1914-1917)
Als Agitator in Albanien. In besonderer Mission in Bukarest.
Graf Czernin. Ausflug in die Dobrudscha. Meine Tätigkeit
mißfällt dem Armee-Oberkommando. Ein Albaner in Wien.
Als Instruktionsoffizier in Budapest. Als Schafhirt in den Karpathen
und in Rumänien. Kritische Zwischenfälle. Zurück
nach Ungarn. Mein Vorgesetzter ist selbst rumänischer Spion.
Aufgefordert in Albanien Freischaren aufzustellen. Es wird 'herumgewurstelt'.
Ein Zwischenfall mit Bulgaren. Unzuverlässigkeit der höheren
Kommanden. Mißlingen des Unternehmens und seine Ursachen.
Ein grober Bericht. Ich werde aus Albanien entfernt. An der ungarisch-rumänischen
Grenze. Kriegserklärung Rumäniens. Die Lage in Siebenbürgen.
Beim Armee-Oberkommando in Ungnade. Bei deutschen Truppen. Krank.
Wieder bei deutschen Truppen. Konflikt mit dem Armee-Oberkommando.
Beim Ersatzkörper. Enthebung vom Militärdienst.
- Verzeichnis von Nopcsas wissenschaftlichen Arbeiten (1897-1933)
- Bibliographie
- Abbildungen
- Inhaltsverzeichnis

|