Robert Elsie
Einem Adler gleich
Anthologie albanischer Lyrik vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Literarisch-künstlerische Reihe des
Instituts für Auslandsbeziehungen Stuttgart.
Neue Folge, Band 2
ISBN 3-487-08301-9
Georg Olms Verlag,
Hildesheim 1988
315 pp.
EINLEITUNG
Vor zweihundert Jahren bezeichnete
der englische Historiker Edward Gibbon Albanien als ein Land
in Sichtweite von Italien und dennoch weniger bekannt als das
Binnenland Amerikas. Für die meisten Mitteleuropäer
hat diese Aussage ihre Gültigkeit bewahrt; lediglich über
Amerika ist man inzwischen etwas besser informiert. Albanien,
das an Jugoslawien und Griechenland grenzt und weniger als hundert
Kilometer von Italien entfernt liegt, ist eigentlich so exotisch
und geheimnisvoll wie damals geblieben.
Die Albaner gehören zu den ältesten
Einwohnern der Balkanhalbinsel und bezeichnen sich als die Nachkommen
der Illyrer. Wie stark sich das illyrische Element in Albanien
auswirkt, ist jedoch schwer festzustellen. Das Albanische (albanisch:
shqip) ist eine indogermanische Sprache und damit urverwandt
mit fast allen Sprachen Europas.
Das Albanische wird von über sechs
Millionen Menschen gesprochen, von denen beinah die Hälfte
außerhalb Albaniens lebt: hauptsachlich im südjugoslawischen
Kossova-Gebiet (Kosovo), in den anderen Regionen Jugoslawiens
sowie in den Arberesch-Siedlungen der süditalienischen Provinzen
Kalabrien und Sizilien. Größtenteils assimilierte
Gruppen von Albanern sind in ganz Griechenland, in der Türkei,
in Syrien, Ägypten, Bulgarien, der Ukraine und in den traditionellen
Einwanderungsländern USA, Australien und Kanada zu finden.
Angefangen von den frühesten griechischen
Handelsposten zu Ende des siebten Jahrhunderts v.u.Z. über
das römische und das byzantinische Imperium, die Slaweneinfalle,
die venezianischen Befestigungen und die fünf Jahrhunderte
wahrende osmanische Fremdherrschaft bis zu Mussolinis kläglichem
Versuch, ein neues Römisches Reich zu schaffen, ist Albanien
Spielball fremder Kräfte gewesen. Die Albaner sind aber
ein Bergvolk und, wie so viele andere Bergvölker, wild und
stolz auf ihre Fähigkeit, sich nur auf sich selbst zu verlassen.
Gern vergleichen sie den Aufstand Skanderbegs gegen den Sultan
im Jahre 1443 mit Enver Hoxhas Revolte gegen Moskau 1961. Die
Geschichte Albaniens ist eine Kolonialgeschichte, eine Tatsache,
die nicht vergessen werden darf, wenn man die albanische Mentalität
verstehen will.
Von allen europaischen Nationalsprachen
wurde das Albanische als eine der letzten schriftlich fixiert.
Albanien kann auf eine vierhundert Jahre alte, wenn auch nicht
immer gleich intensive literarische Tradition backblicken. Die
frühesten Schriftzeugnisse seiner Sprache datieren aus dem
fünfzehnten Jahrhundert. Das erste albanische Buch, das
Meßbuch des Gjon Buzuku, erschien im Jahre 1555.
Während der jahrhundertelangen osmanischen
Herrschaft betrachtete die Hohe Pforte alle ihre moslemischen
Untertanen. einschließlich der Albaner, als Türken
und belegten so albanischsprachige Schulen und Veröffentlichungen
mit einem Bann, die, ob zu Recht oder Unrecht, als subversiv
galten. Die Unterdrückung der Sprache auf dem türkisch
besetzen Balkan schränkte die literarische Kreativität
bis zur zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in erheblichem
Maße ein, obwohl die schriftstellerische Tätigkeit
in Albanien zu keiner Zeit zum Erliegen kam. Es kann daher nicht
überraschen, daß die frühalbanische Literatur
ihren Höhepunkt nicht in Albanien selbst, sondern bei den
Arberesch in Italien erreichte, wo sich das soziale und politische
Klima günstiger auf ihre Entwicklung auswirkte.
Allmählich jedoch wuchs auf dem
Balkan die Nationalbewegung gegen die Türken und fand ihren
Höhepunkt in der Liga von Prizren 1878. Diese sogenannte
Rilindja-Zeit der nationalen Wiedergeburt schuf den romantischen
Nationalismus, der für die albanische Poesie des neunzehnten
Jahrhunderts charakteristisch wurde. Im Jahre 1912 war Albanien
schließlich in der Lage seine Unabhängigkeit zu erklären,
und die Literatur begann, zumindest bei den wenigen Privilegierten,
zu erblühen. Achtzig Prozent der Bevölkerung, darunter
im wesentlichen alle Frauen, blieben bis in die fünfziger
Jahre Analphabeten. Das zwanzigste Jahrhundert erreichte Albanien
erst spät.
Man kann von folgender Periodisierung
der albanischen Lyrik ausgehen:
1. Frühalbanische Lyrik (1592-1878)
2. Lyrik der Rilindjazeit (1878-1912)
3. Lyrik der Unabhängigkeitszeit
(1912-1945)
4. Zeitgenössische albanische Lyrik (nach
1945)
Die albanische Lyrik, wie die albanische
Literatur im allgemeinen, ist den meisten Lesern nach wie vor
unbekannt; eine verständliche Tatsache, denn Albanologen
sind selten und Übersetzungen noch seltener. Das Albanische
paßt nicht zu den üblichen Sachgebieten anderer Balkanwissenschaften
wie Slawistik, Romanistik oder Gräzistik und wird dadurch
oft einfach übersehen. Hinzu kommt gewiß die politische
Entwicklung der letzten vierzig Jahre, die zu einer Isolierung
Albaniens geführt hat.
Die vorliegende Anthologie albanischer
Lyrik, erstmalig in deutscher Sprache, soll lediglich einen Schritt
zum Nachholen des Versäumten darstellen. Sie umfaßt
die bekanntesten Lyriker und Gedichte der albanischen Literatur
von ihren Anfängen bis heute. Sie kann also als einigermaßen
repräsentativ gelten, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit
zu erheben. Die Volksdichtung beispielsweise, die hier nicht
mit einbezogen wurde, bedarf eines Bandes für sich. Ich
habe mich bemüht, dem Original in Inhalt und Stil möglichst
treu zu bleiben und die Übertragungen einfach zu halten.
Nichtsdestoweniger möchte ich zu bedenken geben, was der
hebräische Dichter Chajjim Nachman Bialik einmal sagte:
Dichtung in Übertragung zu lesen, ist wie die Braut
durch den Schleier zu küssen.
Zum Abschluß möchte ich allen
danken, die mich zu diesem Projekt ermutigt und mir geholfen
haben: dem Institut für Sprachwissenschaft und Literatur
der Albanischen Akademie der Wissenschaften, dem Albanischen
Schriftsteller- und Künstlerverband und dem Institut für
Auslandsbeziehungen in Stuttgart für seine freundliche Unterstützung
sowie Ingrid Hahn, Gerlinde Korn, Max Korn, Barbara Schultz,
Stephan Trierweiler und Silke Ulbricht.
Robert
Elsie
Bonn, 1987
INHALTSVERZEICHNIS
- Vorwort
- Einleitung
- Frühalbanische Lyrik
Lekë MATRANGA
Trauerlied
Pjetër BUDI
Die Herrlichkeit des Menschen
Pjetër BOGDANI
Die persische Sybille
Nezim FRAKULLA
Mich hast du als Sklaven
Nikollë KETA
Über sich
Hasan Zyko KAMBERI
Das Geld (Ausschnitt)
- Lyrik der Rilindja- und Unabhängigkeitszeit
Jeronim DE RADA
Die Lieder von Milosao (Ausschnitt)
Pashko VASA
Oh Albanien, armes Albanien
Naim FRASHËRI
Vieh- und Landwirtschaft (Ausschnitt)
Hoffnung
Filip SHIROKA
An unseren Bergen
Zieh dahin, Schwalbe
Andon Zako ÇAJUPI
Mein Dorf
Welt, oh treulose Welt
Sklaverei
Der Garten der Liebe
Ndre MJEDA
An den albanischen Adler
ASDRENI
An die Adria
Die Flöte
Luigj GURAKUQI
Der März (Ausschnitt)
Fan NOLI
Verbannt im Tod! - Elegie für Luigj
Gurakuqi
An Flußufern
Hilë MOSI
Das Schwert des Skanderbeg
In Liebe
Lasgush PORADECI
Ende des Herbstes
Pogradec
Morgen
Winter
Der See schlummert
Dahin ist der April
Unser Dorfbrunnen
Das Herz des Sees
Der Schiffgenius
MIGJENI
Vorwort der Vorworte
Der Funke
Gesang der Jugend
Ungesungene Gesänge
Gedicht des Elends
Gotteslästerung
Gesang des stolzen Schmerzes
Der verlorene Reim
Herbstschau
Skandalöser Gesang
Resignation
Fragment
Neuer Geist
Die Motive
Die Last des Schicksals
Gesang des Abendlandes
Wandernde Seelen
Die Schaukel des Schicksals
Jugendliche Sehnsucht
Das Leiden
Die Einsamkeit
Unter den Flaggen der Melancholie
- Lyrik des modernen Albanien
Dhimitër SHUTERIQI
Der Tode des Bettlers
Aleks ÇAÇI
In Pojan
Die Revolution hat den Menschen schöne
Augen gegeben
So ist es, Myzeqe (Ausschnitt)
Mark GURAKUQI
Der Stolz
Ein Lied für dich
Luan QAFËZEZI
Frucht deines Leidens und deiner Freude
Wir, die Ölbäume und Gewehre
Llazar SILIQI
Von neuem erwachte das Leben
In der Nacht am Strand
Die sprechende Stille
Schlag zu, schlag zu!
Prishtina
Fatos ARAPI
Das Leben
Sollte ich jung sterben
Auf der Schulter meiner Zeit
Ich sprang ins Wasser des Ionischen Meeres
Haß mich nicht!
Die Arbeiter
Klagelied für Papa
Drago SILIQI
Wir hätten noch immer Fremde sein
können
An die Blume, die im Schnee blüht
Dritëro AGOLLI
Die Kuh
Spaziergang
Der Weinberg
Der Kleinbürger
Der Zitronenzweig
Die Fundamente
Das Herz
Landschaft mit einer weißen Wolke
Erste Sehnsucht
In der antiken Stadt
Ein paar Worte an zukünftige Dichter
Der Monolog der Zynikers
Die Arbeit
Die Wildgänse
Das Bett des Kaisers
Devoll, Devoll
Dhori QIRJAZI
Funken
Ich habe gemerkt
Oh, erste Liebe
Die laubreichen Akazien entkleiden sich
Ismail KADARE
Dichtung
Die Kindheit
Und wenn mein Gedächtnis
Requiem für Majakowski
New York bei Nacht
Der Wasserfall
Die winterliche Ebene
Der Westen
Das alte Kino
Wir sind Fremde
Sehnsucht nach Albanien
Am Jahrestag der XII. Brigade
Eine Nacht in Helsinki
Industrietraum
Ein Panzergedicht
Worüber denken diese Berge nach
Sulejman MATO
Oft gegen Mitternacht
Geliebtes Albanien
Das ist Ithaka
Natasha LAKO
Das Laub fallt jeden Herbst
Albanien
Schlaflosigkeit
In der Nacht nach dem Dreschen
Herbst in Tirana
- Lyrik aus Kossova und der Diaspora
Esad MEKULI
Sehnsucht nach dem Unerreichbaren
Der Abend
Türke, elhamdulila
Martin CAMAJ
An mein Land
Enver GJERQEKU
An der Türschwelle
Mein Eid
Karmell KANDREVA
Wie Tränen
Vorea UJKO
Arbereschlied X
Drei Mädchen
Arberesch-Augenblick
Du bist schön
Erste Situation
In der Nacht
Din MEHMETI
Das Licht brennt noch
Olympia
Adem GAJTANI
Magie
Muhammed KËRVESHI
Der Traum
Symbiose
Unsere Liebe
Fahredin GUNGA
Die Welle
Rrahman DEDAJ
Der Hund
Abdylatif ARNAUTI
Wieder am Brunnen
Die Emigranten
Ali PODRIMJA
Kehre back zum Vers des Homer
- Bibliographie
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